Wir erinnern uns an unsere „Dorfmutter“ - Hildegard Wulf

Hildegard Wulf  (geb. 03.10.1939  …… …gest. …12.07.2021)

Als ich auf dem kleinen Charlottenburger Friedhof saß, warten müssend, fiel mir ein Gedicht meiner Lieblingskünstlerin ein, das mir Hildegard auf den Kondolenzbrief meiner Mutter schrieb:

„Die Dämmerung naht — im Sterben liegt der Tag.
Sein Schatten deckt mich zu, der kühl auf einem Blatte lag,
auf seinen roten Beeren.
Ich baute uns ein Himmelreich, dir unantastbar zu gehören
— das an den Riffen deiner Herzensnacht zerbrach.
Die Vögel singen, und vom Nachtigallenschlag
erzittert noch mein Bild am Wald im Bach.
Dir will ich es verehren —
die Dämmerung naht, im Sterben liegt der Tag.“

                                                            (Else Lasker-Schüler)

 

Diese Worte von Hildegard aufgeschrieben waren die Ursache, dass ich mich mit der Künstlerin befasste (die auch malte), sie lieben und verehren lernte, ich war an ihrem Grab in Jerusalem. Deswegen beneide ich sie.

Ich bin froh, diesen Weg nach Berlin gemacht zu haben. Ich wollte Hildegard nicht nur Adieu - mit Gott sagen, denn das war sie lebenslang.

Eine Freundin der Kinder hielt die Abschiedsworte und ich hörte, für mich lebenswichtiges. Ich wusste nicht, dass sie über 10 Geschwister hatte, sie zu den Jüngeren gehörend. Ich war erschrocken, dass in dieser Zeit der alten Heimat die Mutter starb, der Vater war schon tot. Die Kinder fanden bei anderen Menschen Aufnahme und ich erfuhr, dass es Hildegard besonders hart traf. Eine kalte „rote“ und nicht sehr einfühlsame Familie in Leipzig nahm sie auf oder musste das von der Partei. Sie durfte da nicht tun, was sie gewohnt war – beten und singen, sie darbte Jahre. Aber sie wurde von lieben Verwandten erlöst, gerettet. In der neuen Umgebung knüpfte sie an das an, was ihr durch ihr Elternhaus ins Herz gelegt war. Sie baute es aus, kam in eine kirchliche Ausbildung, sie wählte natürlich einen Menschenberuf, sie hatte die Sehnsucht, Hilfsbedürftigen aufzuhelfen, zu stärken und ihre Herzensbildung und ihren tiefen Glauben weiterzugeben.

Und als der Verstärker wirkte bei ihr die Musik. Von ihr hörte ich mein erstes Nietzsche-Zitat: “Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum“

Ich freue mich, die Macke meines Vaters zu haben, alles Merkenswerte aufzuschreiben. So habe ich eine gute Sammlung meiner Altvorderen.

Das mich verwundernste Zitat, das meine Mutter aufschrieb von Hildegard, war von Rosa Luxemburg: „Gut sein ist die Hauptsache, einfach schlicht und gut sein. Das löst und bindet alles und ist besser als alle Klugheit und Rechthaberei“. Am Schluss steht von Mutti die Anmerkung; „Weiß Herr Pfarrer, was seine Frau so schreibt, mal nichts aus der Bibel, ha, ha, ha“.

Zurück zur Musik, Hildegard war ein Genie bei Instrumenten und Noten. Sie behielt es nicht nur für sich, sie förderte den, der nur die geringste Lust hatte. Und wenn wir unsere Susann Wildgrube-Zschieschang haben, so ist es Hildegard zu verdanken. Neben der Pfarrfrau, Mutter, Seelsorgerin, Pflaumenmus kochend, Straße kehrend, Tränen trocknend, Krankenbesuche machend und Sterbende begleitend, war sie das, was ich vorhin von Rosa Luxemburg schrieb – „Mensch sein ist vor allem die Hauptsache“. Wenn ich sehr häufig am Landwehrkanal am 19. Januar Blumen ins Wasser werfe (bestimmt schon 20 x), denke ich nicht nur an Rosa, sondern auch an meine Mutti und Hildegard.

Mir tat es leid, bei der Beerdigung keinen Hut aufzuhaben, den ich tief und echt ziehe konnte.

An Heiligabend werden die Gottesdienstbesucher an Familie Wulf erinnert durch das weihnachtliche Altarbild (Madonna mit Kind), dass sie uns vor über 20 Jahren der Gemeinde geschenkt haben.

Ich verstand meine Mutter, die Hildegard tiefst verehrte und ein bisschen über ihre Töchter traurig war und sich Hildegard als ihr ältestes Kind gewünscht hatte.
Die Wartenburger, die sie hautnah erlebten, werden immer weniger. Die von Hildegard wissen und Herzenstiefe und – Trost erfahren haben, werden ähnlich denken wie ich.

Ich, Gabriele Viehweger, vergesse sie nie!

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